Zusammenfassung:
Familien mit beatmeten Kindern sind verzweifelt. Künftig sollen vor jeder Verordnung von außerklinischer Intensivpflege (AKI) besonders qualifizierte Fachärztebestätigen, dass die anspruchsvolle medizinische Versorgung weiterhin erforderlichist. Da nur wenige niedergelassene Ärzte über die geforderte Qualifikation verfügen,sollen insbesondere Klinikärzte neben ihrer Tätigkeit im Krankenhaus jetzt zusätzlich die geforderten Untersuchungen für AKI-Patienten als ambulante Leistung erbringen . Die hierfür erforderlichen Kapazitäten sind aktuell jedoch nicht vorhanden. Der Mangel an geeigneten Pflegefachkräften behindert zusätzlich die lebenssichernde Versorgung.
Bericht:
Laura ist 10 Jahre alt und wegen einer Muskelerkrankung seit ihrer Geburt aufkünstliche Beatmung angewiesen. Ein Pflegedienst ist rund um die Uhr mit derÜberwachung der intensivmedizinischen Geräte und der erforderlichen Behandlungspflege beauftragt. Mit dieser Unterstützung kann Laura die Schulebesuchen, mit Freunden spielen und trotz ihrer schweren Erkrankung ein weitgehend normales Leben führen. Da für die dauerhafte Pflege jedoch nicht ausreichend Fachkräfte verfügbar sind, müssen die Eltern immer wieder einspringenund die anspruchsvolle Behandlungspflege, für die ausgebildete Pflegefachkräftesich zusätzlich qualifizieren müssen, alleine erbringen. Insbesondere bei Krankheitsausfällen und in Urlaubszeiten sind die Eltern bis zu 90 Stunden in der Woche durch die Ersatzpflege gebunden. Ihre Arbeit in einer Forschungseinrichtungmusste die Mutter auf ein Minimum reduzieren, da sie nicht selten Tag und Nacht im Einsatz ist, um bei Komplikationen sofort einzugreifen und so das Überleben ihrerTochter zu sichern.
„Unsere große Sorge ist, dass Laura wegen des hohen Pflegebedarfs und der enormen zusätzlichen Anforderungen an die neue außerklinische Intensivpflegevieleicht nicht mehr mit uns zusammen Leben und aufwachsen kann“ sagt Lauras Mutter.
Wie Laura geht es vielen Menschen mit Behinderung, die wegen regelmäßig wiederkehrenden lebensbedrohlichen Krisen jederzeit auf die Einsatzbereitschaft einer geschulten Pflegefachkraft angewiesen sind. Bundesweit sind das rund 20.000 Patienten.
Mit dem Ziel, die aufwändige Versorgung der intensiv-pflegebedürftigen Menschenzu verbessern, Missstände in der Versorgung zu beseitigen und die Selbstbestimmung der Betroffenen zu stärken hatte der Bundestag im Sommer 2020 das Intensivpflege- und Rehabilitationsstärkungsgesetz beschlossen. Dabei wurde eine Übergangsfrist von drei Jahren vorgesehen. Zum Anfang des Jahres ist nun die neue AKI-Richtlinie in Kraft getreten, nach der künftig vor jeder ärztlichenVerordnung der pflegerischen Leistungen die ergänzende Untersuchung durch einen besonders qualifizierten Facharzt vorgeschrieben ist. Da diese Fachärzte jedoch aktuell nicht verfügbar sind, hat der zuständige Gemeinsame Bundesausschuss Ende letzten Jahres die Möglichkeit geschaffen, dass beatmete Patienten anstelleder AKI wie bisher auch weiterhin Verordnungen für häusliche Krankenpflegeerhalten dürfen. Durch die gesetzliche Vorgabe endet diese Möglichkeit jedoch im Oktober 2023. Dass die ambulanten Versorgungsstrukturen in allen Regionen rechtzeitig zur Verfügung stehen, wird aber selbst von beteiligten Fachärzten bezweifelt.
„Wir versorgen in unserer Klinik im Südwesten Deutschlands jedes Jahr mehr als100 heimbeatmete Kinder. Unsere stationären Kapazitäten sind immer wiederausgelastet oder sogar überlastet. Ergänzende ambulante Untersuchungen können wir aus budgetären und personellen Gründen aktuell nicht leisten“ sagt Lennart Gunst, Funktionsoberarzt und Kinderpneumologe am Universitätsklinikum Freiburg und Sprecher der Sektion Kinder und junge Menschen bei der Deutschen Interdisziplinären Gesellschaft für außerklinische Beatmung (DIGAB). „Von Fachkollegen in anderen Regionen weiß ich, dass auch dort der Aufbau vonzusätzlichen ambulanten Strukturen nicht ausreichend und schnell genug vorangetrieben werden kann.“
Da für die hohen Qualitätsanforderungen an die außerklinische Intensivpflege aufabsehbare Zeit weder die personellen noch die strukturellen Voraussetzungen vorliegen, fürchten Betroffene und ihre Angehörigen nun, dass durch die neu eingeführten Leistungsvoraussetzungen künftig die Pflege im eigenen Zuhause nicht mehr genehmigt wird. Die Versicherten müssen nämlich zusätzlich jedes Jahrgegenüber dem medizinischen Dienst nachweisen, dass die medizinische und pflegerische Versorgung zuhause in der geforderten Weise sichergestellt ist. Andernfalls müssen sie mit den Krankenkassen Zielvereinbarungen abschließen, bei denen die Kassen jedoch nur noch eine personal- und kostensparende Versorgungschulden, z.B. in sogenannten Intensivpflege-Wohneinheiten.
„Eine selbstbestimmte Lebensführung im eigenen Haushalt oder im familiären Umfeld wird durch die unzureichenden Versorgungsstrukturen für viele Betroffene erheblich erschwert“ sagt Markus Behrendt vom Selbsthilfeverein IntensivLeben e.V. „Wenn die pflegebedürftigen Menschen mit Behinderung nicht selbst sicherstellen können, dass die von Ärzten und Pflegekräften geforderten Leistungen tatsächlich erbracht werden, kann die Verlegung in eine Sammelunterbringung nich tausgeschlossen werden. Gerade für junge Menschen mit Behinderung wird dannauch der gewohnte Besuch von Schulen, die Teilhabe am Arbeitsleben oder an Freizeitaktivitäten nicht mehr selbstverständlich sein, weil durch den geringeren Personalschlüssel für die notwendige pflegerische Begleitung außerhalb derWohneinrichtung oft nicht ausreichend Fachkräfte vorhanden sind.“
Fachärzte und Selbsthilfeverbände fordern die Bundesregierung daher auf, dieUmsetzung der vorgesehenen Neuregelung solange auszusetzen, bis die geplanten Versorgungsstrukturen flächendeckend zur Verfügung gestellt werden können.Hierfür wäre zunächst eine strukturierte Erhebung der Versorgungspfade und eine wissenschaftliche Folgenabschätzung für die sehr heterogene Patientengruppe erforderlich. Entsprechende Daten fehlten im Gesetzgebungsverfahren der Vorgängerregierung, obwohl sie, auch von Gesundheitspolitikern der heutigen Bundesregierung, nachdrücklich eingefordert wurden (siehe Drucksachen 19/13792und 19/21046, Deutscher Bundestag).
Weitere Informationen sowie Bildmaterial senden wir Ihnen auf Anfrage gerne zu. Für Rückfragen und bei Interviewinteresse stehen wir gerne jederzeit zur Verfügung.
Markus Behrendt
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